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Obwohl Syri den ganzen Tag und tief bis in die Nacht dem Moarhof entgegenstrebt, weiß sie, dass sie diesen auch ohne eine Rast einzulegen nicht vor Morgen Mittag erreichen wird. Hungrig und müde setzt sie sich schlussendlich unter eine große Fichte, deren schwere Äste bis zum Boden reichen. Nach ein paar Bissen von ihrem Proviant lehnt sie sich an den Stamm, um die Ereignisse der letzten Tage Revue passieren zu lassen.

  „Ein Paar Stunden Schlaf werden mir sicherlich guttun, damit ich bei Sonnenaufgang meinen Weg fortsetzen kann“, sind ihre letzten Gedanken, ehe sie einschläft. Es sollte aber kein erholsamer Schlaf werden. Geplagt von einem fürchterlichen Albtraum schreckt Syri immer wieder hoch. Erst als der Tag zu erwachen beginnt, beruhigt sich ihr Geist, wodurch sie doch noch zu etwas Erholung kommt. Die steht Sonne schon hoch am Himmel, als sie durch ein seltsames Geräusch geweckt wird. Es ist ein Mönch, der getarnt als fahrender Händler seines Weges zieht. An seinem Wagen baumeln unzählige kleine und große Glocken, welche ein stetes Bimmeln und Läuten von sich geben. Interessiert beobachtet Syri den Mann, ehe sie sich dazu entschließt zu fragen, ob er sie ein Stück des Weges mitnehmen würde. Ihr Ziel ist vorerst der Moarhof, obwohl sie weder weiß, wie weit dessen Neuaufbau schon fortgeschritten ist, noch welche Erklärung sie für ihr Erscheinen geben soll. In einem ihrer Träume von letzter Nacht hat sie miterlebt, wie nach ihr gesucht wurde. Jeder, der eine falsche Aussage machte oder auch nur etwas verheimlichen könnte, wurde mit dem Tod bestraft. Dass man sie auf dem Moarhof nicht verraten würde, ist ihr gewiss. Zudem hat sie auch noch gesehen, wie ihretwegen der Moarhof erneut ein Raub der Flammen wurde.

 

 

    Dass diese Bilder nur einem Traum entsprungen und sie noch nie den Hang zu visionären Voraussagungen hatte, weiß Syri zwar, dennoch lassen sie diese Gedanken im Moment nicht mehr los.

    „Hey guter Mann! Wartet einen Augenblick!“, ruft sie dem Händler nach, weil dieser schon an ihr vorbeigezogen ist.

   „Brrrr mein Mädchen halte an. Ich glaube, da will jemand etwas von uns“, brummt die tiefe Stimme des Mannes, als er seiner alten Stute eine Verschnaufpause gönnt, um zu sehen, wer nach ihm ruft.

   „Sieh an mein Mädchen, eine Schildmaid ruft nach uns. Holde Kriegerin, womit können wir euer einsames Herz erfreuen. Wollt ihr etwas kaufen oder nur unser Herz mit einem kleinen Pläuschchen erfreuen?“

    „Fahrt ihr zufällig nach Westen?“

   „Fahren wir nach Westen, mein Mädchen“, fragt der schrullige Händler sein Zugpferd, das gerades so als könnte es seine Worte verstehen, zufällig mit dem Kopf nickt.

  „Ja wir fahren nach Westen, vorbei an Burg Vaals bis nach Dreiseental. Möchtet ihr uns ein Stück begleiten? Ich glaube kaum, dass mein Mädchen etwas dagegen hat, wenn ihr zu mir auf den Bock unseres Wagens klettert.“

    „Danke guter Mann.“

    „Hüjah mein Mädchen unsere Reise geht weiter.“

   „Redet ihr immer mit eurem Pferd?, fragt Syri verwundert, nachdem sie es sich neben dem Mann gemütlich gemacht hat.

   „Natürlich rede ich mit meinem Mädchen. Ihr müsst nämlich wissen, sie ist sehr klug und widerspricht mir nie. Stimmt's mein Mädchen? Was aber sucht eine Schildmaid alleine abseits der großen Stadt?“

    „Wer sagt, dass ich eine Schildmaid bin?“, fragt Syri.

    „Eure Rüstung, euer Schwert mit dem ihr bestimmt schon so manchen Kampf ausgetragen habt“, schlussfolgert der Mann. Weil ihn Syri aber keine Antwort gibt, beginnt ihr neuer Reisegefährte ein Lied vor sich herzusummen.

    „Jetzt weiß ich es“, unterbricht der Mann sein Lied.

    „Was wisst ihr?“

  „Ihr seid auf der Suche nach Liebe: Stimmt’s? Dann müsst ihr aber nach Meretos? Wenn ihr jedoch das Abenteuer sucht, dann müsst ihr in die Ferne ziehen? Oder seid ihr gar auf der Suche nach einen stattlichen Fürsten, der euch den Hof machen wird? Dann geht nach Bisammtoras.“

   „Weder noch und an das, was mich in Meretos erwarten würde, möchte ich erst gar nicht denken. Viel mehr würde mich Interessieren, habt ihr auch Kleider unter euren Waren? Eine einfache Tunika wäre mir am liebsten. So eine wie sie die Mägde der Bauern und der feinen Herren tragen. Ich gebe euch dafür meine Lederrüstung, weil ich keinen einziges Stück Geld, ja nicht einmal einen Kupferling bei mir habe“, antwortet Syri mit melancholischer Stimme.

   „Dann seid ihr also doch auf der Flucht. Ja ja ich kenne auch das. Auch ich bin schon einmal in einer ähnlichen Situation gewesen, doch das ist schon lange her. Hüjah mein Mädchen, lauf etwas schneller, zur Mittagszeit wartet ein Sack voll Hafer auf dich. Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja stimmt, Ihr wolltet mir von eurer Flucht erzählen.“

  „So? Wollte ich das? Glaubt mir, es ist besser, wenn ihr so wenig als nur möglich über mich wisst. Dort vorne könntet ihr anhalten, damit ich mich hinter den Büschen umkleiden kann. Sollte uns jemand aufhalten, so bin ich eure Tochter Tirania und meine Mutter hat Mus geheißen. Geboren wurde ich in Minros. Könnt ihr euch das merken?“, fragt Syri frech.

  „Tirania und Mus. Ja ich glaube schon, dass ich mir diese beiden Namen merken kann.“

   „Wie ist eigentlich euer Name?“

   „Aros Talm Opar Ram. Aber ihr dürft mich Ator nennen. Brrrr mein Mädchen, brrrr.“

   „Wo kommt ihr denn her? Hat man euch diese vielen Namen wirklich gegeben, oder habt ihr sie euch nur ausgedacht?“, fragt Syri verwundert. Ator aber hört die Frage nicht, da er auf einem Ohr taub und so nebenbei mit der Suche nach der von Syri gewünschten Tunika beschäftigt ist.

    „Hier dieses wunderbare Kleid müsste euch passen. Wollt ihr mir wirklich eure Lederrüstung dafür geben? Sie ist bestimmt mehr Wert, als meine gesamten Waren, fragt Ator ungläubig.

   „Ja. Ihr müsst mir nur versprechen, sie eine Zeit lang nicht herzuzeigen oder gar zu verkaufen. Nicht meinetwegen. Ich bin vielmehr um euch besorgt. Es tut mir leid, wenn ich euch damit in Verlegenheit bringe, aber glaubt mir, es ist besser, wenn man nicht allzu vielweiß.“

   „Schade, als Schildmaid habt ihr mir besser gefallen. Hüjah mein Mädchen hüjah. Wirklich schade.“

    „Und nicht vergessen Vater, ich bin eure Tochter.“

Einige Meilen weiter macht sich Syris Vorsorge bereits das erste Mal bezahlt, als sie auf den Tross von Baur At Nals treffen. Dieser immer noch wütend hat es sich in den Kopf gesetzt, den Mörder seines Freundes zu fassen, um als Held nach Meretos zurückzukehren. Hatte Syri anfänglich noch Sorge, dass sich dieser Mann nicht alles merken könnte, so verblüfft er sie mit dem Geschick eines Schaustellers, der es versteht, auf eine ganz besondere Weise sein Publikum zu faszinieren.

  „Danke“, sagt Syri erleichtert, als sie außerhalb der Hörweite des letzten Soldaten ihren Weg fortsetzen.

   „Dank mir nicht zu früh mein Kind. Ich habe nämlich auch ein Anliegen, bei dem ihr mir behilflich sein könnt. Kennt ihr euch hier in dieser Umgebung aus?“, fragt Ator, ehe er Syri erklärt, dass er schon länger als ein Jahr im ganzen Land auf der Suche nach einem Mann namens Jack Omnium Atrium ist. Syri aber hat diesen Namen noch nie gehört. Zerylias ist aber auch zu groß, als dass sie jeden kennen könnte. Dennoch könnte sie sich vorstellen, diesen Mann, bei seiner Suche zu helfen. So kann Syris zumindest für eine Weile ihre Sorgen vergessen.

    „Woher kommt ihr, wenn ich das fragen darf?“, möchte Syri nach einer Weile von ihrem neuen Weggefährten wissen.

   „Aus einem verborgenen Tal südlich des Südgebirges nahe der kleinen Stadt Sial. Ihr werdet wohl kaum je davon gehört haben, zumal es von dort nichts Aufregendes zu berichten gibt“, erklärt ihr Ator, ohne zu ahnen, dass sich Syri jedes Detail dieser Gegend von Jofram hat erklären lassen.

  „Dann kennt ihr sicher auch das Drachenkloster. Ist es wirklich so geheimnisvoll? Irgendwann einmal werde ich mich dorthinbegeben, um die große Bibliothek zu besuchen. Sie soll so groß sein, dass ein einziger Mann tausend Jahre damit zubringen könnte, um alle Bücher zu lesen. Könnt ihr auch lesen? Ich liebe es, in alten Büchern zu blättern, wenn ich auch so manches nicht immer verstehe. Vor allem die Niederschriften von Esoral lassen mich zeitweise an meinem Erkenntnisvermögen zweifeln. Aber das wird einen Händler wie euch, wohl kaum interessieren.“

    Ator überrascht von dem Wissen, welches Syri an den Tag legt, überlegt nun einen Moment, ob er dieser jungen Frau seine wahre Identität preisgeben soll. Es spricht einiges dafür, zumal sie ihn bei seiner Suche sicherlich behilflich sein könnte. Andererseits kennt er sie noch nicht gut genug und weiß auch nicht, ob er ihr wirklich vertrauen kann. Aus diesem Grund entschließt er sich, vorerst mehr von seiner neuen Begleiterin in Erfahrung zu bringen.

    „Wo habt ihr eigentlich Lesen gelernt?“

   „Ein alter Mann namens Bordar hat es mir beigebracht. Er war der Lehrmeister und Mentor unseres verstorbenen Jarls. Leider haben beide uns vor Kurzem verlassen“, sagt Syri, kann ihren Schmerz aber nicht unterdrücken, was Ator sofort auffällt.

   „Wie gut kanntet ihr Kyra Con Vaal Keres? Ich meine, kanntet ihr sie als Mensch oder nur als Jarl?“

    „Kyra war ...“

   „Ja?“, fragt Ator so nebenbei, worauf Syri, ehe sie sich ihre Tränen aus dem Gesicht wischt, mit leiser Stimme zu erzählen beginnt.

   „Ich hatte das große Glück vor ein paar Jahren in den Dienst von Kyra Con Vaal Keres treten zu dürfen. Auf Burg Vaals durfte ich so manches erlernen, was

 

 

eigentlich nichts mit den Aufgaben eines Dienstmädchens zu tun hatte. Liliana At Meris hat mir das Bogenschießen beigebracht, Bordar hat mich in die Kunst der Taubenzucht eingeführt, während mich Marula die Geheimnisse der Kräuterkunde gelehrt hat. Abgesehen davon hat Kyra es auch erlaubt, dass ich in der Kunst des Schwertkampfes unterrichtet wurde. Irgendwann hat es sich ergerben, dass mich unser Jarl zu einer ihrer Gefährtinnen machte. Ja sie hat mir sogar erlaubt, einen zweiten Namen zu tragen. Doch all das würde ich dafür geben, könnte ich ihr noch einmal in die Augen sehen oder mit ihr am selben Tisch sitzen. Aber das Schicksal mag es auch noch so ungerecht erscheinen, hat leider anders entschieden.“

   „Das tut mir leid. Ich meine, dass ihr mit Kyra Con Vaal Keres eine so gute Gefährtin verloren habt. Wann und wo ist sie eigentlich gestorben? Und wer ist jetzt der neue Jarl? Oder wurde noch keiner bestimmt?“

   „Wo habt ihr denn gelebt, dass ihr noch nichts davon gehört habt. Passiert ist dieses Unglück von etwas mehr als drei Monden. Es war ein schrecklicher Brand, in dem sie ihr Leben verloren hat. Danach wurde ein gewisser Mason Con Beri zum Jarl gewählt. Aber um diesen brauchen wir uns keine Sorgen mehr machen.“

    „Warum?“

   „Warum, wollt ihr wissen? Weil dieser arrogante Hochstapler schon kurz nach seiner Ernennung zum Jarl ermordet wurde“, erklärt Syri selbstsicher. Für Ator aber ergeben die Äußerungen nach einigen weitern Details zum Tod des neuen Jarls langsam einen Sinn. Der freiwillige Tausch ihrer Lederrüstung gegen eine schlichte Tunika. Ihr gebildetes Wissen. Die eben erst stattgefundene Kontrolle der Soldaten, welche offensichtlich nach jemand suchen, ja sogar die Bitte, sie ein Stück des Weges mitzunehmen, passen auf irgendeine Weise zu den Erkenntnissen, welche er und seine Ordensbrüder aus alten Vorhersagungen entnehmen konnten. All das, sowie der Umstand, dass Kyra Con Vaal-Keres tot sein soll, lassen Ator zur Überzeugung kommen, dieser jungen Frau etwas mehr Vertrauen entgegenzubringen. Dennoch möchte er seine wahre Identität noch immer nicht preiszugeben. Also erzählt er ihr von Jack Omnium Atrium, der einmal folgende Weisheit gesagt haben soll.

 

Das Leben ist wie ein Sack voller Korn.

Nicht immer leicht zu tragen.

 

    „Da mögt ihr wohl recht haben. Trotzdem, manche Last wiegt schwerer als ein Sack voll Korn.

    „Vielleicht wendet sich trotz all dieser traurigen Nachrichten, von denen ihr zu berichten wusstet, alles noch zum Guten.“

   „Ihr habt leicht reden, guter Mann. Wenn ihr Hunger verspürt, verkauft ihr eure Wahre, um euch mit dem Geld etwas zum Essen zu kaufen. Wenn ihr einsam seid, redet ihr mit eurem Pferd und seid ihr müde, legt ihr euch unter euren Wagen, um zu schlafen.“

   „Wenn das alles nur so einfach wäre. Ich bin nicht der Händler, der euch nur ein Stück des Weges mitnimmt. Ich wurde ausgesandt, um ...“

    „Um diesen Jack Omnium Atrium zu suchen? Seid ihr ein Kopfgeldjäger? Ihr wisst schon, dass so etwas in Zerylias verboten ist. Aber was soll's, wem interessiert das noch. Früher als Kyra noch Jarl war, da hätte es solcherart Gerechtigkeit nicht gegeben. Aber jetzt schert sich niemand mehr darum?“, sinniert Syri.

   „Und ihr seid euch sicher, dass Kyra Con Vaal-Keres nicht mehr am Leben ist?“

   „Warum fragt ihr mich das schon wieder. Sehe ich aus, als ob ich Geschichten erfinden würde?“

   „Nein das wollte ich euch nicht unterstellen. In Wirklichkeit komme ich aus dem Drachenkoster, weil wir dort zu der Erkenntnis gekommen sind, dass sich hoch im Norden eine Gefahr auftut, welche nur durch unseren gemeinsamen Einsatz gebändigt werden kann. Der Händler, für den ich mich ausgegeben habe, dient mir nur zum Schutz. Alleine als Mönch durch das Land zu ziehen, kann manchmal mehr als nur gefährlich sein. Wir sind nicht überall gern gesehen. Einen Händler hingegen tritt jeder freundlich gegenüber, zumal sich so manch einer ein besseres Geschäft daraus erhofft. Wenn aber, wie ihr mir berichtet habt, Kyra Con Vaal-Keres nicht mehr unter uns weilt, bekommt meine Mission einen ganz anderen Stellenwert.“

    „So tut sie das?“, fragt Syri ein wenig zornig.

   „Ja das tut sie, wenngleich ich nicht daran glauben kann, dass meine Brüder und ich, uns in der Auslegung der alten Schriften sosehr geirrt haben könnten. Aufschluss über die sich uns daraus aufgedrängten Fragen könnte womöglich dieser Jack Omnium Atrium geben. Aber wie schon gesagt ist jener Mann niemandem bekannt und auch nirgendwo anzutreffen. Also haben wir uns entschlossen, dass einer von uns mit Kyra Con Vaal-Keres über diesen Mann und das was wir herausgefunden haben, reden sollte. Wenn, aber wie ihr mir berichtet habt, unser Jarl nicht mehr am Leben ist, dann seid ihr womöglich meine letzte Hoffnung. Vielleicht seid ihr sogar der Schlüssel zu unseren Problemen. Wie gut kanntet ihr wirklich die Herrin von Burg Vaals? Kanntet ihr ihre Herkunft? Wusstet ihr von der Last der Bürde, welche seit ihrer Geburt auf ihren Schultern lag?“

    „Ihr meint, dass Kyra die Tochter einer Hexe gewesen sein soll? Ja davon hat sie uns selbst berichtet, aber ich glaube das nicht. Kyra war keine Hexe. Sie war ein guter Mensch, der niemand je ungerecht behandelt hat. Nicht ein einziges Mal.“

    „Hat sie euch auch erzählt, dass ihr Lebensfaden niemals abreisen wird. Kyra Con Vaal-Keres kann nicht sterben. Nicht eher, als dass sie ihre wahre Bestimmung erfüllt hat. Bei unseren unermüdlichen Nachforschungen sind meine Brüder auf eine Reihe von seltsamen Büchern gestoßen, die es eigentlich nicht geben dürfte. Niemand konnte sich erklären, wo diese Schriften herkommen könnten. Sie erzählen die Geschichte einer Frau, der das Schicksal von Zerylias mit in ihre Wiege gelegt wurde.“

 

 

  Leseprobe aus:

 

Hauch des Todes

 

Band 4

2.Teil

 

 

     

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